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Lagen die Wurzeln in Alteuropa?


Noch vor wenigen Jahren galt es als unbestritten, dass das älteste Schriftsystem der Welt vor etwa 5000 Jahren von den Sumerern im Zweistromland (Mesopotamien) entwickelt wurde und sich dann von dort in die anderen Hochkulturen des Altertums verbreitete. So haben es Generationen von Gutenberg-Jüngern in der Schule gelernt, so kann man es auch in den Lexika nachlesen. In den letzten Jahren hat diese These der Monogenese(1) der Schrift allerdings erhebliche Kratzer bekommen.

Seit den Veröffentlichungen der litauischen Archäologin M. Gimbutas in den siebziger und achtziger Jahren wissen wir von einer noch älteren, vor-indogermanischen europäischen Schrift. Die sogenannte Vinca-Kultur(2) besiedelte bereits im 6. Jahrtausend vdZ den Balkanraum zwischen Adria und Karpaten, zwischen dem heutigen Ungarn und dem nördlichen Griechenland. Die hier bei Ausgrabungen gefundenen Zeugnisse einer frühen europäischen Sakralschrift haben Wissenschaftler zu der Annahme gebracht, dass aus ihr die kretische Linear A-Schrift entstanden ist. Harald Haarmann hat in seinem empfehlenswerten Werk Universalgeschichte der Schrift auf die Wahrscheinlichkeit einer frühen Wanderung der Vinca-Kultur in den ägäischen Raum hingewiesen.

Földes-Papp hatte bereits 1966 in seinem Werk Vom Felsbild zum Alphabet auf die, wie er es nannte, "Kretische Hypothese" bei der Entwicklung des Konsonantenalphabets hingewiesen, freilich ohne Kenntnis der erst später gemachten Entdeckungen der Archäologen.

Die Hypothese der alteuropäischen Wurzeln unserer Schrift ist unter den Wissenschaftlern nicht unumstritten. Darf sie deshalb unerwähnt bleiben? Wohl kaum. Wer sich bisher im Besitz der allgemeingültigen Antworten auf die vielfältigen Fragen der Schriftgeschichte wähnte, dem dürften angesichts der modernen Forschungsergebnisse doch erhebliche Zweifel kommen. Festzuhalten bleibt eine wichtige Tatsache: Immerhin zwei Jahrtausende liegen zwischen den ältesten Zeugnissen der Alteuropäischen Schrift und den ersten Aufzeichnungen der Sumerer in Mesopotamien.

Bereits die alten Griechen und Römer stritten über den Ursprung des Alphabets. Der Geograph Strabo nannte das iberische Volk der Turdetanier; diese hätten eine über 6000 Jahre alte Schrift besessen. Heute dürfen wir annehmen, dass diese iberische Schrift nichts anderes als ein Ausläufer des phönikischen Konsonantenalphabets war.

Platon dagegen hielt die Ägypter für die Schöpfer des Alphabets. Der Römer Plinius der Ältere nannte die Assyrer, während der Historiker Tacitus der ägyptischen Hypothese den Vorzug gab. Der Grieche Diodor schrieb, nicht die Phöniker hätten das Alphabet erfunden, sondern sie hätten lediglich eine aus Kreta stammende Schrift übernommen und verändert. Sicher ist, dass bei den bereits im Altertum lebhaften Handelsbeziehungen im Mittelmeerraum, ein Schriftsystem nicht isoliert bleiben konnte. Gerade den seefahrenden Phönikern ist die kretische Linearschrift sicherlich nicht unbekannt geblieben. Insofern darf man Kreta wohl die Funktion einer Drehscheibe bei der Verbreitung der Schrift zuschreiben.





Kreta und Zypern


Das älteste auf Kreta nachzuweisende Schriftsystem, eine Bilderschrift, wird auf etwa 2000 vdZ datiert. Sie ist auf wenigen Tonstreifen und Siegeln erhalten geblieben. Ihre Herkunft aus den ägyptischen Hieroglyphen gilt heute als sehr wahrscheinlich. Mit ziemlicher Sicherheit hat man damals auch schon mit Matrizen die Schriftzeichen in den weichen Ton eingedrückt, der anschließend an der Sonne getrocknet wurde.

Italenischen Archäologen gelang 1908 im minoischen Palast von Phaistos (Süd-Kreta) ein herausragender Fund. Eine flache, runde Tonscheibe mit ca. 16 cm Durchmesser, beidseitig mit Bildzeichen bedeckt, wurde der Vergangenheit entrissen.

Dieser sog. "Diskus von Phaistos" entstand im 17. Jahrhundert vdZ. Lange Zeit hielten die Wissenschaftler ihn für einen Import aus Kleinasien oder aus Nordafrika. Nach einem weiteren Fund auf Kreta, der ähnliche Schriftzeichen enthält, gilt seine kretische Identität inzwischen als gesichert. Auch gehen die Wissenschaftler nunmehr davon aus, dass es sich bei den Schriftzeichen um eine linksläufig geschriebene Silbenschrift handelt, lediglich ihr bildhafter Charakter erinnert noch an die kretischen Hieroglyphen. Diese Zeichen wären dann die direkte Vorstufe zu den linearen Schriften, deren Frühform man freilich bereits parallel zu den Hieroglyphen verwendete.

Sir Arthur Evans, dem Ausgräber des Palastes von Knossos, verdanken wir die Funde der kretischen Linear A- und Linear B-Schrift.

Linear A entwickelte sich höchstwahrscheinlich aus der Hieroglyphenschrift und wurde für die minoische Sprache verwendet. Linear A ist bis heute nicht entziffert. Wir wissen auch nicht, was etwa im 15. Jahrhundert vdZ zum Untergang der minoischen Kultur geführt hat; die Wissenschaftler halten eine große Naturkatastrophe ebenso für möglich, wie eine Invasion vom griechischen Festland.

Auf Zypern war während der Bronzezeit, im 2. Jahrtausend vdZ, eine Schrift in Gebrauch, die mit der minoischen Linear A offensichtlich verwandt ist. Sie wird als Kyprisch-Minoische oder alt-kyprische Schrift bezeichnet. Die gefundenen Tontafeln wurden im Gegensatz zu den kretischen Funden gebrannt und nicht in der Sonne getrocknet. Die alt-kyprische Schrift ist bis heute unentziffert. Ab dem 1. Jahrtausend vdZ wurde auf Zypern für die griechische Sprache die sog. klassische zyprische Schrift verwendet, die bei der Entzifferung der Linear B durch den Briten Michael Ventris (1922 bis 1956) eine Schlüsselrolle spielen sollte.

Als Sir Arthur Evans 1941 starb, hatte er mit der Entzifferung der kretischen Linear B kaum Fortschritte gemacht und war bis zuletzt davon überzeugt, dass die minoische Sprache unmöglich ein frühes Griechisch sein konnte.

Dem Architekten Michael Ventris, der bereits als 15jähriger Evans kennengelernt hatte, gelang 1953, unterstützt von John Chadwick, der Nachweis, dass die Linear B-Tafeln in einem archaischen Griechisch beschriftet wurden. Linear B-Funde gab es nicht nur auf Kreta, sondern auch auf dem griechischen Festland (Pylos 1939, Mykene 1950, Theben 1964 und Tiryns 1966).

Die Minoer und Mykener haben also bereits Jahrhunderte vor Homer griechisch gesprochen. Andrew Robinson schreibt in seinem Werk "Die Geschichte der Schrift": "Dies ist nicht das Griechisch Homers, geschweige denn das klassische Griechisch des Euripides, so wie das moderne Deutsch nicht das Deutsch Grimmelshausens ist."

Fußnoten

(1) monogen = aus einer einmaligen Ursache entstanden

(2) Die Vinca-Kultur hat ihren Namen nach dem serbischen Dorf Vinca bei Belgrad, Fundort einer großen, mehrschichtigen Siedlung.





Das phönikische Konsonantenalphabet


Die Phöniker (oder Phönizier) waren wohl die größten Händler und Entdecker der Antike. Sie bereisten und erforschten den gesamten Mittelmeerraum und gründeten Kolonien. Ihr Vorstoß bis zu den Kanarischen Inseln gilt heute als wahrscheinlich, manche Wissenschaftler halten sogar eine Umsegelung Afrikas für möglich. Die Phöniker haben der Nachwelt ein Konsonantenalphabet mit 22 Buchstaben hinterlassen, von dem wir heute wissen, dass sich aus ihm die früh-griechische Schrift entwickelt hat. Die phönikische Schrift gehört zum nordsemitischen Schriftenkreis, dem außerdem die kanaanäische und die aramäische Schrift zuzurechnen sind. Über die Herkunft des phönikischen Konsonantenalphabets wissen wir wenig, kretische Einflüsse können ebenso wenig ausgeschlossen werden, wie ägyptische oder sinaitische(3). Vielleicht kam Diodor tatsächlich der Wahrheit sehr nahe, als er schrieb, die Phöniker hätten lediglich eine aus Kreta stammende Schrift übernommen und verändert.

Als ältestes Zeugnis der phönikischen Schrift gilt das sog. Abdo-Fragment, vermutlich aus dem 17. oder 16. Jahrhundert vdZ. Eine eingeritzte Inschrift am Tempel zu Abu Simbel zeigt uns die frühe Übergangsform zur mittel-phönikischen Schrift, die etwa ab dem 7. Jahrhundert verwendet wurde. Die Karthargische (punische) Schrift ist eine weitere Entwicklungsstufe, bei der die Worte bereits durch Zwischenräume getrennt wurden.

Die Karthagische (punische) Form wurde ab etwa 300 vdZ bis zur Zerstörung Karthagos durch die Römer im Jahre 146 vdZ verwendet. Die neu-punische Schrift hielt sich bis in das dritte Jahrhundert.

Albert Kapr bemerkte, dass die entscheidenden Schritte in der Entwicklungsgeschichte der Schrift immer dann getan wurden, wenn ein Volk das schriftliche Ausdrucksmittel eines anderen Volkes übernahm(4). Genau dies taten nun die alten Griechen mit dem phönikischen Konsonantenalphabet.





Griechenland


Die überragenden kulturellen Leistungen der Griechen für die Zivilisation können gar nicht genug betont werden. Auf den Gebieten der Philosophie, der Architektur und der Kunst haben sie Werte für die Ewigkeit hinterlassen. Ihnen verdanken wir u. a. die demokratische Staatsform. Athen stieg zur führenden Handelsnation des Mittelmeerraumes auf und übernahm die Schlüsselrolle bei der Weiterentwicklung der Schrift.

Die griechische Geschichte von etwa 1200 bis 700 vdZ wird von den Historikern allgemein als dunkle Periode bezeichnet, was aber lediglich besagt, dass wir fast keine Kenntnisse über die Ereignisse dieses Zeitraums besitzen. Etwas Licht in das Dunkel werfen immerhin die Dichtungen Homers. Aber gerade in dieser Periode entstanden die ersten frühgriechischen Alphabete, die aus der phönikischen Schrift entlehnt waren und der griechischen Sprache angepaßt wurden. Kretische bzw. zyprische Einflüsse dürften hierbei ebenfalls eine Rolle gespielt haben.

Über mehrere Jahrhunderte gab es verschieden Schreibweisen in den griechischen Regionen, wohl eine Folge des ausgedehnten Siedlungsgebietes der Griechen. Die Wissenschaft unterscheidet drei Gruppen der früh-griechischen Schrift:

a) Die archaischen Alphabete der dorischen Inseln (Kreta, Thera, Milos)

b) Die östlichen Alphabete (Attika, Aegina, Kleinasien, Korinth etc.)

c) Die westlichen Alphabete (Thessalien, Lakonien, Böotien, Arkadien, Euböa etc.)

In erstere Gruppe gehört die vierzeilige Felsinschrift aus Thera, die etwa im 7. Jahrhundert vdZ entstanden ist. Der Text besteht aus fünf Namen und ist furchenwendig (bustrophedon) geschrieben, d. h. erste und vierte Zeile sind linksläufig, zweite und dritte Zeile rechtsläufig zu lesen.

Eines der ältesten uns erhalten gebliebenen griechischen Schriftdenkmäler ist die sog. Dipylonkanne aus dem Athen des 8. Jahrhunderts vdZ, deren Inschrift in die zweite Gruppe einzuordnen ist. Die linksläufige Beschriftung lautet in deutscher Übersetzung: "Wer nun von den Tänzern am anmutigsten tanzt, der soll dies erhalten." Offensichtlich war die Dipylonkanne als Siegespreis gedacht.

Seit etwa 500 vdZ hat sich die rechtsläufige Schreibrichtung in ganz Griechenland durchgesetzt, die unterschiedlichen regionalen Alphabete wichen aber erst rund hundert Jahre später dem klassischen griechischen Alphabet.

Dieses war eine Linearkomposition auf fast quadratischer Grundfläche. Durch die geometrischen Grundformen Kreis, Dreieck und Rechteck lassen sich die verschieden Buchstaben sehr gut voneinander unterscheiden. Die Griechische Capitalis ist eine Monumentalschrift, deren strenger Schnurcharakter sofort ins Auge fällt. Erst später, parallel zur römischen Capitalis monumentalis, entwickelte sie Serifen; ein sehr schönes Beispiel liefert uns ein in einer Kölner Kirche gefundene Grabstein aus dem 1. Jahrhundert.

Der Verwendung von Papyrus oder Pergament als Schriftträger schulden wir die Entwicklung der Griechischen Majuskel. Sie wurde mit der Rohrfeder, aber auch mit dem Pinsel geschrieben, wirkt dadurch flüssiger und durch den Verzicht auf den strengen geometrischen Aufbau auch sehr viel lebendiger als die in Stein gehauenen Schriftzeichen der Capitalis.

Im 3. Jahrhundert vdZ entwickelte sich aus der Majuskel die Griechische Unziale, eine mit der Rohrfeder geschriebene Großbuchstabenschrift, parallel hierzu taucht die griechische Kursive auf, eine flüchtig mit dem Metallgriffel in Wachs geritzte Gebrauchsschrift. Sie ist der Vorläufer der Griechischen Minuskel, einer Kleinbuchstabenschrift mit meist stark betonten Ober- und Unterlängen. Diese griechische Minuskel kommt den heute verwendeten griechischen Kleinbuchstaben bereits sehr nahe.

Für fünf Schriftgruppen ist die griechische Schrift als Ursprung anzusehen:

1. für die kleinasiatische Gruppe der phrygischen, der lykischen, der lydischen und der karischen Schrift. Die genannten Schriften stehen dem griechischen Vorbild so nahe, dass sie als direkte Ableger bezeichnet werden können.

2. für die slawischen Schriften (glagolitische und kyrillische Schrift).

3. für die koptische Schrift.

4. für die armenische und georgische Schrift.

5. für die italische Gruppe (etruskische Schrift und deren Ableger sowie die lateinische Schrift).

Fußnoten
(3) Vergleiche hierzu Kapr, Albert: Schriftkunst. Anatomie und Schönheit der lateinischen Buchstaben. München, NewYork, London, Paris 1983(4) ebd.





Die Schrift der Etrusker


Zu Beginn des 1. Jahrtausends vdZ waren die Etrusker, von den Griechen Tyrrhenoi genannt, die Herrscher im nördlichen Italien. Schenkt man dem griechischen Historiker Herodot Glauben, dann stammen sie ursprünglich aus dem kleinasiatischen Lydien. Die etruskische Sprache gibt den Wissenschaftlern noch heute große Rätsel auf, während die griechische Abstammung ihrer Schrift offensichtlich ist.

Selbst der Fund zweisprachiger Goldtäfelchen (phönikisch-etruskisch) in Pyrgi, westlich von Rom, vermochte das Rätsel der etruskischen Sprache nicht zu lösen. Die Wissenschaftler verdanken dieser Entdeckung lediglich die Bedeutung des etruskischen Wortes ci (für drei)!

Halten wir fest: Die Etrusker übernahmen das griechische Alphabet in veränderter Form, über die Etrusker schließlich gelangte es zu den altitalienischen Volksgruppen und entwickelte sich dann zum lateinischen Alphabet.

Nach der Unterwerfung der Etrusker durch die Römer erlosch etwa zum Beginn unserer Zeitrechnung sowohl die etruskische Schrift, wie auch die Sprache. Das etruskische Alphabet wurde von einigen altitalienischen Volksgruppen übernommen. Das umbrische und oskische Alphabet entstanden im 5. oder 6. Jahrhundert vdZ.





Alpine Schriften


Die interessantesten Varianten des etruskischen Alphabets entstanden allerdings im letzten Jahrhundert vdZ im Alpenraum; wir bezeichnen sie heute als alpine Schriften. Die Forschung billigte ihnen lange Zeit nur die Rolle als ein toter Zweig der Schriftgeschichte zu. Diese These gilt heute als falsch, es darf sogar angenommen werden, dass die alpinen Schriften bei der Entstehung der Germanischen Runen eine Schlüsselrolle gespielt haben. Auch hierüber streiten allerdings die Gelehrten.

Die alpinen Schriften werden in drei Hauptgruppen gegliedert:

  • die rätische Schrift aus dem Raum Bozen/Trient,
  • die lepontische und
  • venetische Schrift.


Die rätische Sprache war wahrscheinlich eine Variante der etruskischen, allerdings mit keltischem Einschlag. Noch heute wird in einigen Tälern der Südtiroler Dolomiten das Ladinisch, eine rätoromanische Sprache gesprochen; in der Schweiz ist das Rätoromanisch als vierte Amtssprache anerkannt. Die cisalpinen Gallier verwendeten die lepontische Schrift (interessant in diesem Zusammenhang: die transalpinen Gallier übernahmen das griechische Alphabet in unveränderter Form). Die Sprache der Veneter schließlich war eng dem Illyrischen verwandt.





Die Runen


Da im Absatz über die Alpinen Schriften die Runen erwähnt wurden, wollen wir kurz auf sie zu sprechen kommen und folgen dabei weiterhin der These, dass die Alpinen Schriften ihre Entstehung maßgeblich beeinflußt haben. Runenfunde wurden hauptsächlich in Südskandinavien, Jütland, auf den Britischen Inseln und in Deutschland gemacht. Aber auch in Italien, Rumänien, Rußland, Ungarn, Griechenland und sogar auf Grönland wurde man fündig. Die älteste bekannte Runenalphabet stammt wohl aus dem 2. Jahrhundert und wird nach seinen ersten sechs Buchstaben Futhark genannt (th = ein Zeichen).

Im angelsächsischen England wurden Runen und lateinische Schrift häufig nebeneinander benutzt. Bekanntestes Beispiel ist ein Ring aus Lancashire (ca. 9. Jahrhundert). Spätestens nach der normannischen Eroberung Englands im 11. Jahrhundert setzte sich dann in England die lateinische Schrift durch, die Runen verschwanden. Die Verwendung der Runen kam im heutigen Deutschland bereits um etwa 700 außer Gebrauch, lediglich in Skandinavien wurden sie auch noch nach dem 11. Jahrhundert genutzt.





Die Westgotische Schrift


Ebenfalls kurz erwähnt werden soll hier das Westgotische Alphabet. Die Westgoten waren die ersten Germanen, die die christliche Religion annahmen. Ihrem Bischof Ulfilas wird die Übersetzung der Bibel (oder zumindest von Teilen der Bibel) in die westgotische Sprache zugeschrieben. Zu diesem Zweck entwickelte er eine neue Schrift. Dieses Alphabet ist dem griechischen entlehnt, enthält aber auch Zeichen aus dem lateinischen und dem Runen-Alphabet. Die Westgotische Schrift ist nicht mit der späteren sog. gotischen Schrift zu verwechseln und hat interessanterweise keinerlei Bedeutung für die weitere Schriftentwicklung gehabt.





Capitalis monumentalis


Im 8. Jahrhundert vdZ entstand der römische Stadtstaat. Er übernahm im Wesentlichen die Kultur der Etrusker. Leider sind aus der Frühzeit Roms, der sog. Königszeit, keine Schriftdenkmäler erhalten. Die Entstehung der lateinischen Schrift fällt etwa in den Zeitraum der römischen Republik, die ab dem 6. Jahrhundert vdZ begann, ganz Italien militärisch zu unterwerfen. Die älteste überlieferte lateinische Inschrift auf der sog. Maniosspange ist noch linksläufig, aber bereits zu dieser Zeit treten bustrophedone Inschriften auf. Der Richtungswechsel zur Rechtsläufigkeit dürfte etwa im 3. Jahrhundert vdZ statgefunden haben. Das erste lateinische Alphabet bestand aus 21 Zeichen, überflüssig gewordene etruskische Zeichen verschwanden, oder wurden als Zahlzeichen verwendet.

Die Entstehung der klassischen römischen Kapitalschrift, der Capitalis monumentalis, (etwa ab dem 1. Jahrhundert vdZ) muß im Zusammenhang mit der Architektur gesehen werden. Die Triumphbögen, Prachtbauten und Denkmäler der Römer wurden mit diesen ausgewogenen Großbuchstaben (Versalien) versehen. Vermutlich mit einem Flachpinsel wurden zwischen einer oberen und unteren Begrenzungslinie die Zeichen auf dem Stein vorgeschrieben. Dann wurden die durch den Flachpinsel entstandenen breiten und schmalen Striche an- und abschwellender Kurven mit einem Meißel nachgeschlagen. Um ein Ausbrechen des Steins am Buchstabenende zu verhindern, ließ man die Enden zu beiden Seiten hin ausschwingen, die Serifen waren entstanden.

Die Capitalis monumentalis besticht auch heute, nach über 2000 Jahren, durch ihre erstaunliche Vollkommenheit. Sie ist der Ursprung unserer heutigen Groß- wie auch der Kleinbuchstaben.

Auch als reine, mit dem Flachpinsel geschriebene, Wandschrift (etwa für Bekanntmachungen) wurde die Capitalis monumentalis angewandt. Auffällig ist dabei ihr schmallaufender Duktus.





Die Römische Stempelschrift


Leider viel zu wenig Beachtung in der Fachliteratur findet eine ganz besondere Schriftform der Römer: die Stempelschrift. Sie wurde für Ziegel-, Brot- und Brandstempel verwendet und besteht meist aus linearen Capitalisformen mit gleichstarken Balken. Meist fehlen die Serifen. Diese Schriften dürften als Vorbild für die serifenlosen florentinischen Inschriften an den Kirchen Sta. Maria Novella und Sta. Croce gedient haben, die in der Frührenaissance entstanden sind(5). Nach 1800 standen diese Formen wahrscheinlich auch Pate bei der Entwicklung der Egyptienne und der Grotesk-Schriften.





Römische Kursiv


Für den täglichen Gebrauch schrieben die Römer mit dem Stilus (Stift aus Metall oder Holz) oder dem Calamus, einem Rohrgriffel. Mit ersterem ritzte man die Schriftzeichen in eine Wachstafel, mit dem Calamus hingegen schrieb man mit Tusche entweder auf Papyrus und Pergament oder auch auf Tonflächen und Leinwand. Beide Schreibmittel beeinflußten natürlich das Aussehen der Schrift. Dem Schreiber kam es vor allem darauf an, seine Gedanken möglichst rasch festzuhalten. Das Ergebnis war eine Abschleifung der klassischen Buchstabenformen. Die der Nachwelt erhalten gebliebenen Zeugnisse zeigen eine flüchtig und schräg geschriebene Verkehrs- und Handschrift, die, obwohl sie noch eine reine Versalschrift war, bereits Ansätze zu Ober- und Unterlängen zeigte.

Die Wissenschaft unterscheidet heute zwischen der älteren römischen Kursiv (1. bis 3. Jahrhundert) und der jüngeren römischen Kursiv (3. bis 7. Jahrhundert), bei der bereits erste Minuskelformen (Kleinbuchstaben) auftauchen.

Die zeitgenössischen Typografen Adrian Frutiger und Manfred Klein haben übrigens mit ihren Schriftentwürfen Herculanum (1990) bzw. Pompeji (1991) den Geist der römischen Versalkursiven neu belebt und nutzbar gemacht.





Die Buchschriften


Als Capitalis quadrata und Capitalis rustica werden die Buchschriften der römischen Kaiserzeit bezeichnet. Beide gehen auf die klassische römische Kapitalschrift zurück. Bei der Capitalis quadrata fällt der Kontrast zwischen fetten und feinen Strichen, bedingt durch die Federdrehung des Schreibers, sofort ins Auge.

Ein wesentliches Merkmal der schmal-laufenden Capitalis rustica sind ihre feinen senkrechten und fetteren waagerechten Striche.

Auch lange nach dem Niedergang des römischen Imperiums wurde die Rustica noch als Auszeichnungsschrift verwendet

. Beide Schriften wurden auch in Stein gehauen, gelegentlich auf Grabsteine, und als Wandschrift mit dem Pinsel aufgetragen. So fand man z.B. in Pompeji mit roter Farbe aufgetragene Reklamebeschriftungen.

Der unaufhaltsame Zerfall des römischen Reiches brachte auch einen Verfall der Schriftkultur mit sich. Kaiser Konstantin war es zwischenzeitlich gelungen, das Imperium zu stabilisieren, vor allem, weil er das Christentum zur Staatsreligion erhob, doch das Machtzentrum hatte sich mittlerweile nach Osten verschoben. Konstantinopel (Byzanz) trat an die Stelle Roms.

Während in der Glanzzeit des Imperiums nicht wenige einfache Soldaten schreib- und lesekundig waren, konnten nunmehr nur relativ wenige Angehörige der Oberschicht und die amtlichen Schreiber lesen und schreiben. Albert Kapr hat darauf hingewiesen, dass sich durch das Christentum auch der Zweck des Schreibens wandelte(6). Inschriften auf Triumphbögen und Tempeln wurden nicht mehr gebraucht, die Kirchenväter lehnten zudem jene Schriften ab, mit denen das "heidnische" Rom sich und seine Macht gefeiert hatte. An ihre Stelle trat nun die sog. Unzialschrift.





Römische Unziale und Halbunziale


Die erste und bedeutendste frühchristliche Schrift, die Unziale, entwickelte sich aus den teilweise sehr rund geschriebenen Formen der Capitalis rustica wahrscheinlich bereits im 2. Jahrhundert. Obwohl sie eine Versalschrift ist, zeigen sich deutliche Frühformen der Kleinbuchstaben, so z.B. bei a und e. Zu erkennen sind auch kleine Ober- und Unterlängen. Die Unziale wirkt dynamisch und besticht durch eine sehr gute Lesbarkeit.

Einhergehend mit dem Siegeszug der Unziale in den Scriptorien des Abendlandes ist der Niedergang des Römischen Reiches. In der Zeit der Völkerwanderung, als das Lesen und Schreiben das Privileg einer kleinen Klasse, der Berufsschreiber und Teilen des Klerus war, beginnt auch das Ausschmücken und Hervorhebens einzelner Buchstaben. Die Schrift ist nun nicht mehr ausschließlich Mittel zum Zweck der Informationsübermittlung, sondern dient auch als Gestaltungsmittel.

Etwa ab dem 5. Jahrhundert datiert das Auftauchen der Römischen Halbunziale. Hier vollzieht sich sehr deutlich der Übergang zur Kleinbuchstabenschrift. Die Ober- und Unterlängen sind weitgehend ausgebildet und die Formen der Minuskeln der späteren Antiqua sind klar zur erkennen.

Fußnoten
(5) Während seines Italienaufenthaltes 1950 holte sich der Typograf Hermann Zapf hier Anregungen für eine seiner bekanntesten Schriftschöpfungen: die Optima. Siehe hierzu Zapf, Hermann: Über Alphabete.Frankfurt am Main, 1960

(6) Kapr, Albert: Schriftkunst. Anatomie und Schönheit der lateinischen Buchstaben. München, NewYork, London, Paris 1983 Die irreführende Bezeichnung "Nationalschriften"





Durch den Verfall des Römerreiches gewinnen die Regionen eine größere Selbstständigkeit. Ein Vorgang, der nicht ohne Auswirkung auf die Entwicklung der Schrift bleibt. Es entstehen Schriftformen, die in der Literatur meist als Nationalschriften bezeichnet werden, eine Bezeichnug, die absolut irreführend ist. Der Göttinger Wissenschaftler Dr. Karl Brandi machte bereits 1911 die Begründer der paläographischen Wissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert für diese falsche Benennung verantwortlich. Falsch in zweifacher Hinsicht, da

a) in diesen unsicheren Zeiten vom 4. bis etwa zum 7. Jahrhundert sich Nationen im heutigen Sinne noch nicht gebildet hatten und

b) die schreibenden Mönche häufig wanderten und so die unterschiedlichen Formen in ganz Europa bekannt und vor allem verbreitet waren. So gründeten irische Mönche Klöster und Scriptorien in Frankreich, Deutschland und Italien. Sie brachten ihre Form der Schrift in weit entlegene Gebiete und mischten sie mit den dortigen Schreibstilen. Eine saubere Unterscheidung in verschiedene Nationalschriften ist daher unmöglich.(7)

Besser, man bezeichnet diese Schriften als Regionalschriften; der gelegentlich benutzte Terminus "Vorkarolingische Schriften" ist wohl ein wenig zu verschwommen.

Diese Regionalschriften entwickelten sich aus der Römischen Halbunziale. Die Irisch-Angelsächsische Halbunziale weist wie die römische Variante durchgebildete Ober- und Unterlängen aus. Als Versalien werden die Unzialbuchstaben verwendet. Auffallend sind die dreieckigen Köpfe bei den Mittel- und Oberlängen, daher kann man sie durchaus als Vorläuferin der gebrochenen Schriften bezeichnen.

Eine weitere nennenswerte Regionalschrift ist die Kuriale, die häufig auf päpstlichen Urkunden verwendet wurde und durch die Vielzahl von Ligaturen und verfremdeten Buchstaben den Eindruck der Unleserlichkeit vermittelt. In Norditalien bildet sich die Langobardische Minuskel heraus, auf fränkischem Boden die Merowingische Buchschrift. Ab dem 9. Jahrhundert verkommt die Merowingische Gitter- oder Urkundenschrift zu dekorativen Spielereien, die eigentlichen Buchstaben sind kaum noch zu erkennen.

Eine späte Regionalschrift, die noch lange nach der Schriftreform Karls des Großen verwendet wurde, ist die süditalienische Beneventana, auch Monte-Cassino-Schrift(8) genannt (ca. 9 bis 13. Jahrhundert). Sie überrascht den heutigen Betrachter durch ihre regelmäßigen und ausgeglichenen Formen. Allerdings wurde die Beneventana mit der zunehmenden Zahl von Ligaturen bzw. Kürzungen im Laufe der Zeit derart unleserlich, dass Kaiser Friedrich II. schließlich ihren Gebrauch untersagte (Edikte von 1220 und 1231).





Die Karolingische Minuskel


Mit der Karolingischen Minuskel, der hervorragenden Weiterentwicklung der Halbunziale, ist die Entwicklungslinie von der Capitalis monumentalis zur Minuskelschrift endgültig abgeschlossen. Karl der Große, im Jahre 800 zum Kaiser ausgerufen, forderte von seinen schreibkundigen Untertanen, die heiligen Texte mit größter Sorgfalt zu schreiben.

Zahlreiche Gelehrte aus England, Spanien und Italien wurden in das Frankenreich geholt. Alkuin von York gründete in Aachen die kaiserliche Hofschule und leitete später als Abt das Kloster St. Martin bei Tours. Im Scriptorium dieses Klosters ist wahrscheinlich auch die Karolingische Minuskel entstanden. Sie unterscheidet sich von den Schriften vorhergehender Epochen durch ihre ausgezeichnete Lesbarkeit. Als Großbuchstaben werden die Zeichen der Capitalis monumentalis verwendet (Die Halbunziale war im Laufe des 8. Jahrhundert sehr stark stilisiert worden; Abkürzungen und Ligaturen hatten auch hier stark zugenommen, so dass die Entschlüsselung der Texte immer schwieriger wurde).

Karls Reformen sowohl im staatlichen wie im kulturellen Bereich waren für die weitere Schriftentwicklung von größter Bedeutung. Durch die Wirren der Völkerwanderung und den Zerfall der alten Gesellschaftsordnung waren die geistigen Überlieferungen der Antike in Vergessenheit geraten, nun erfolgte wieder eine Hinwendung zur Literatur der Antike. Die altlateinischen Texte sind uns zum größten Teil aus Abschriften karolingischer Scriptorien überliefert worden. Es ist eine Ironie der Schriftgeschichte, dass die Humanisten der Renaissance glaubten, in diesen karolingischen Abschriften die originale Schrift der Antike entdeckt zu haben; hieraus resultiert der noch heute gebräuchliche Name Antiqua (=ältere Schrift).

Fußnoten
(7) Vergleiche hierzu: Brandi, Karl: Unsere Schrift. Göttingen 1911. Degering, Hermann: Die Schrift. Tübingen 1964. Kapr, Albert: Schriftkunst. München 1983

(8) In den Klöstern Monte Cassino und Benevento unterhielten die Benediktinermönche sogenannte Schreiberschulen




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